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Tina, 17-jährig:
Aus einem Brief an die Freundin:
Dienstag, 2. März 2004
Es fällt mir ein wenig schwer zu schreiben. Ohne Zigarette geht es
nicht, oder ich meine zumindest es ginge nicht.
Vor etwa 5 Wochen war Steffen zu Besuch. Kurz nachdem er wieder
weggefahren war, rief er mich an und meinte aus heiterem Himmel, er habe
geträumt Vater zu werden.
Meine Periode war bereits überfällig und ausgerechnet am Freitag den 13.
erfuhr ich durch einen Schwangerschaftstest, dass ich schwanger war. Alles
geriet aus seinen Bahnen.
Erst konnte ich es nicht glauben. Wie konnte ich nur, genauso wie er
auch, so verantwortungslos gewesen sein !?
Den Montag darauf konnte ich einen Termin beim Frauenarzt ergattern,
welcher mir anhand eines Ultraschallbildes die Schwangerschaft
bestätigte. Es gab kein Zurück mehr.
Steffen war sprachlos. Er weinte und weinte. "Wir können es nicht
abtreiben" wiederholte er immer wieder.
Ich lief zu Beratungsstellen. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Die
Depressionen waren verflogen, die Sorgen und Probleme meines
alltäglichen Lebens waren erloschen. Das einzige was noch zählte war das
"Kind", das neue Leben in meinem Bauch.
Ich weinte stundenlang. Ich schrie und brüllte aus Schmerz. Ich hörte
auf zu rauchen. Liess die Finger vom Alkohol. Ich machte mir das Leben
schwer, indem ich die Ultraschallbilder über mein Bett hing. Ich sah mir
Bilder von Embryos an. Kaufte mir Zeitschriften über Babys.
Ich überlegte mir ernsthaft dieses "Kind" zu behalten. Obwohl ich mir
sicher gewesen war niemals Kinder bekommen zu wollen, konnte ich den
Gedanken nicht ertragen, das neue Leben in mir zu "vernichten".
Steffen, wie auch meine Eltern überliessen mir die Entscheidung. Nun
hing alles an mir.
Ich verfluchte alle Männer, verfluchte Steffen. Ich verfluchte das Leben
mit allem was dazugehört. Ich hasste jedoch mich selbst am meisten.
Das Einzige was ich in dieser Zeit
noch zu lieben schien, war dieser winzige Punkt, welcher sich in meinem
Körper mit jedem Tag weiter entwickelte. – So ging es eine Zeitlang. Und
eines Tages hörte ich auf zu weinen. Ich konnte es schlicht weg einfach
nicht mehr. Ich fing wieder an zu rauchen und zu trinken. Hörte auf,
über mein vielleicht zukünftiges "Kind" nachzudenken. Meine Energie war
völlig aufgebraucht.
Eines Abends, es schneite und war bitterkalt, nahm ich Zigaretten zur
Hand, einen Schal und Jacke und ging am Fluss spazieren. Als ich soweit
entfernt war, dass kein Mensch mehr zu sehen war, streckte ich meine
Arme aus und hob sie in den Himmel. Es sollten die letzten Tränen sein,
die ich für mein "Kind" vergoss. Ein sanfter Wind umgab mich und ich
schrie in die Dunkelheit hinein: "Lass mich los. Du weißt, dass ich dich
liebe und wenn du leben willst, dann werde ich dich als Mutter mit all
ihren Verpflichtungen auf diese Welt bringen. Aber wenn du mich liebst,
gib mir noch Zeit. Gib mir ein Zeichen – ich bitte dich gib mir ein
Zeichen." Der Wind schien nachzulassen, ein tiefer Frieden umgab und
erfüllte mein Herz. Die Tränen trockneten und es bildete sich ein
ungewolltes Lächeln auf meinen Lippen. Und meine Entscheidung stand
fest…
Ich rannte und rannte. Rannte für
Steffen, rannte für mich und mein "Kind". Ich rannte nach Hause… griff
zum Hörer und rief Steffen an.
"Steffen" sagte ich "Unser Kind hat entschieden, komm bitte morgen zu
mir." Er nahm den nächsten Zug am darauf folgenden Tag.
Am Freitag, den 27. Februar 2004 wurde mein "Kind" in der 7.
Schwangerschaftswoche abgetrieben und zurück in den Himmel entlassen.
Wenn ich nun an das "Kind" denke, sehe ich es lächeln und ich weiss, es
geht ihm gut dort oben oder wo immer es sich befinden mag. Besser als
es ihm hier unten bei mir gegangen wäre.
Hätte es unbedingt kommen wollen, wäre es auch geboren worden,
dann hätte ich die Abtreibung nicht vornehmen lassen, es seelisch nicht
übers Herz bringen können. Naives Denken meinerseits? Ja,
vielleicht. Sehr wahrscheinlich sogar. Jedoch was spricht gegen ein
naives Denken, wenn es mir hilft das Ganze zu verarbeiten?
Ich bekam eine Vollnarkose und habe von der Operation rein gar nichts
mitbekommen. Ich bin mir nun SICHER, dass es die richtige Entscheidung
gewesen ist.
Steffen und ich fuhren nach Hause. Wir sahen uns an. Nahmen die
Ultraschallbilder von der Decke an meinem Bett. Lächelten uns an.
Verbrannten sie in einer Schale. Lächelten uns nochmals an. Vielleicht
floss noch die ein oder andere Träne. Fassten uns bei der Hand, und
übergaben die Asche dem Himmel…
Aus Tinas Tagebuch:
Freitag, 13. Februar 2004
Ich bin schwanger! Schwanger! Sprachlos? Ja, war ich auch! Ich habe
keine große Lust den heutigen Tagesablauf zu beschreiben. Ich kann nur
soviel sagen: Meine Tage sind ausgeblieben. Steffen meinte am Telefon,
dass er ein schlechtes Gefühl habe, und ob ich nicht einen
Schwangerschaftstest machen könnte. Ich sagte ich würde es machen. Wir
amüsierten uns noch ein wenig darüber, dass heute Freitag der 13. ist.
Sagten, wird schon nichts sein – und glaubten daran!
Na jedenfalls zog ich dann los und besorgte einen Test. So locker wie
ich es nun niederschreibe war es nicht – es war eine Horrortour. Ich
verspürte tiefe Angst in meiner Brust. Ich kam nach Hause und aß noch
etwas zu Mittag. Lachte viel mit meiner Mutter.
Tja und dann machte ich den (auf ewig soll er verflucht sein) Test. Er
endete mit zwei Strichen und somit positiv. Und nun? – Leere.
Ich telefonierte mit Steffen. Wir schwiegen uns an, durch ein Weinen
beider Seiten unterbrochen.
Na ja das ganze Reden bringt ja auch nichts. Man ist ja doch allein mit
dem (tschuldige meine Ausdrucksweise) Scheiss. Und zwar richtig
alleine. Und selbst wenn ich mit jemandem darüber rede – ich bewahre
mir nur meinen schwarzen Humor. Ich kann keinem zeigen, was wirklich
in mir vorgeht.
14.Februar 2004
Ich habe etwa 4 Stunden geschlafen, die halbe Nacht mit Steffen
telefoniert, und mir Gedanken gemacht. Ich bin schwanger! Soeben habe ich
mir Embryobilder im Internet angesehen. Montag werde ich zur Frauenärztin
gehen und ich hoffe immer noch darauf, dass sie mich ansieht, lächelt und
sagt: Sie sind gar nicht schwanger.
Steffen meint, wie auch immer ich mich entscheide, ob ich "es" behalte
oder nicht – er würde hinter mir stehen. Dass ich abtreibe, ist jedoch so
gut wie sicher. Ich entwickle jedoch jetzt schon starke Muttergefühle.
Ehrlich gesagt weiss ich nicht, was ich machen soll.
Seit gestern ist alles anders. Plötzlich wird einem wieder bewusst, dass
man lebt. LEBEN ! und ja, nicht nur das. Man wird sich bewusst, dass man
LEBEN schenken könnte. Ich trage einen Teil von Steffen und mir in meinem
Bauch. Eine Verschmelzung unserer Informationen, unserer Gene, und unserer
Liebe. Es ist ein kleines Ding aus Liebe gemacht – und vielleicht macht
das alles noch schwerer. Nun trage ich es in mir… Nach genau einem Tag
und einer Nacht empfinde ich schon Liebe für das, was in mir schlummert.
26.Feburar 2004
Morgen um 8.oo Uhr ist meine Abtreibung. Ich habe Angst. Grosse Angst.
Will ich das alles wirklich, frage ich mich !? – Ja. Die letzten zwei Tage
haben mir gezeigt, dass zwar meine Gefühle Karussell fuhren, jedoch meine
Entscheidung von Anfang an feststand. Ich sagte von Anfang an, ich möchte
noch keine Mutter sein – und ich sage es immer noch. Was ich morgen tue,
werde ich nie wieder vergessen ! aber überwinden werde ich es !
28. Februar 2004
Nun ist es vollbracht. Keine Erleichterung. Aber auch keine Reue !
Eigentlich nichts.
5. März 2004
Heute war ein schöner Tag. Was habe ich gelacht – man glaubt es kaum.
15. April 2004
Steffen und ich sind immer noch zusammen. Kein Hass auf Männer, kein Hass
auf ihn, kein Hass auf mich. Ich bin sehr sehr froh keine Mutter zu sein,
und vor allen Dingen nicht schon bald eine zu sein. Ich bin alles andere
als stolz. Aber jeder macht Fehler. Ich jedenfalls habe ihn eingesehen.
Ich kann jetzt besser mit meinem Körper und meiner Fruchtbarkeit umgehen –
viel bewusster und klarer! Und nein ich habe nicht getötet. Für meine
Verantwortungslosigkeit hat niemand Verantwortung getragen ausser ich
selbst ! Es ist schade, dass das alles nötig war, um vieles vorher noch
verborgene nun erkennen zu können. Ich bin gegen Abtreibung – und dennoch
soll es das Recht jeder Frau sein. Es steht niemandem zu, uns ein
schlechtes Gewissen zu machen. Es soll weiterhin unsere Entscheidung
bleiben.
Würde heute wieder der 26. Februar sein, ich würde wieder am 27.
die Operation vornehmen lassen ! Das hat nichts mit Kaltherzigkeit zu tun
– ich selbst habe am meisten gelitten, und ich selbst habe mir am meisten
Schuldzuweisungen angetan. Niemandem wünsche ich ein solches Erlebnis –
aber jeder Frau wünsche ich Selbstbestimmung. Wir müssen daraus lernen.
Ich meine daraus gelernt zu haben! JA – das habe ich ! Und hey – mein
"Kind" !? es ist nicht aus der Welt. Da bin ich sicher! Es wird wieder
kommen, sei es nun in einem ihm noch unbekannten Bauch oder wer weiss
vielleicht wird es ihm ein schon bekannter sein. Der meine! Irgendwann !
Mein Leben hat sich grundlegend verändert. Ich nehme meine Umwelt viel
bewusster wahr. Diese Erfahrung hat mein Leben verändert – komischerweise
aber in positivem Sinne ! Und ja – vielleicht lag der Sinn darin !?!? Ich
bin froh über das Wissen, welches ich nun in mir trage. Ich weiss, dass
mein Kind mich versteht und mitentscheiden hat. Um ins Mystische zu gehen
sage ich, dass ich denke, dass die Seele einen Menschen ausmacht. Die
Seele befindet sich noch nicht in einem Lebewesen, das sich noch im Bauche
der Mutter befindet. Sie tritt mit der Geburt ins Leben ein…
Zu Tinas Homepage: www.abtreibungsseite.de.vu