RUNDSCHAU Nr. 55, Juni 1998
Die Erfolgsgeschichte der Niederlande
Modell auf die Schweiz übertragbar?

 
DER BESTE "LEBENSSCHUTZ" :
Prävention statt Strafe

Nicht Strafparagraphen und Hürden für die betroffenen Frauen, sondern einzig und allein die Prävention ungewollter Schwangerschaften verhindert Schwangerschaftsabbrüche. Dies war die Kernaussage von Dr. Evert Ketting in seinem Vortrag am 28. April 1998 in Bern. Auf Einladung der SVSS referierte der holländische Soziologe und international bekannte Experte in Fragen der reproduktiven Gesundheit über internationale Erfahrungen und die erfolgreiche Prävention des Schwangerschaftsabbruchs in den Niederlanden.

Restriktive Abtreibungsgesetze hätten noch nie und nirgends ungeborenes Leben zu schützen vermocht, erläuterte Dr. Ketting. Die grausame Erfahrung sei vielmehr, dass gerade in restriktiven Ländern (namentlich in der 3. Welt) die Abtreibungsrate besonders hoch ist und dass dort viele Frauen an den Folgen illegaler Abtreibungen sterben. Die einzige Möglichkeit, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu senken, liegt nach Ketting in der wirksamen Verhütung ungewollter Schwangerschaften.

Die Häufigkeit des Schwangerschaftsabbruchs

In Südamerika ist die Abtreibungsrate trotz rigorosen Verboten im Durchschnitt viermal so hoch wie in Westeuropa. Auch in Osteuropa ist sie wesentlich höher. Das ist darauf zurückzuführen, dass es bis vor kurzem in Osteuropa kaum moderne, zuverlässige Verhütungsmittel gab und keine Sexualaufklärung.

In Westeuropa variiert die Häufigkeit der Schwangerschaftsabbrüche zwischen dem Minimum von etwa 6 pro Jahr auf 1000 Frauen im gebärfähigen Alter (15-44 Jahre) in den Niederlanden und dem Maximum von rund 18,5 in Schweden. Die Rate in der Schweiz (ungefähr 8) gehört zu den niedrigsten Europas.

Mittlerweilen steht wissenschaftlich fest, betonte Ketting, dass die Schwangerschaftsabbruchrate nicht von der Gesetzgebung abhängig ist. In Ländern mit restriktiven Gesetzen ist sie nicht niedriger als in Ländern mit liberalen Gesetzen. Das Ziel restriktiver Gesetze, nämlich Frauen von einer Abtreibung abzuhalten, wird also nicht erreicht. Für die Zahl der Abbrüche sind nur die kontrazeptive Versorgung der Bevölkerung und die Qualität der sexuellen Aufklärung ausschlaggebend, so Ketting.


DIE ERFOLGSGESCHICHTE DER NIEDERLANDE :
Warum ist die Abortrate in den Niederlanden so niedrig?

Die Niederlande sind international als "Modellstaat" bekannt geworden, weil es gelungen ist, eine sehr liberale Gesetzgebung mit einer sehr niedrigen Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen zu verbinden. Dr. Evert Ketting legte in seinem Vortrag vom 28. April 1998 in Bern die Gründe für diesen Erfolg dar.

Die Schwangerschaftsabbruchrate in Holland ist die niedrigste der Welt (6 pro 1000 15-44jährige Frauen). Und dies, obwohl der Abbruch völlig legal, leicht zugänglich und für jede in den Niederlanden wohnhafte Frau kostenlos ist.

Falsche Behauptungen

Die oft gehörte Behauptung, die holländischen Statistiken seien unvollständig, es gebe eine hohe Dunkelziffer, bezeichnete Ketting als "völligen Unsinn":

  • Es gibt ganz offensichtlich keine illegalen Laienabtreibungen mehr.
  • Die offizielle Statistik ist mit Sicherheit sehr zuverlässig. Alle Eingriffe müssen der Gesundheitsbehörde gemeldet werden. Eine Klinik, die der Meldepflicht nicht nachkommt, verliert ihre Zulassung. Vor allem aber werden die Ärzte von der Sozialversicherung nur für jene Eingriffe bezahlt, die sie gemeldet haben. Holländische Ärzte verzichten nicht gerne auf ihr Honorar, meinte Ketting lachend.
  • Dies gilt auch für die frühzeitigen Abbrüche ("Menstrual Regulations"). Sie müssen genau gleich der Gesundheitsbehörde gemeldet werden.

Die wirklichen Gründe

In den Niederlanden gibt es eine stark entwickelte "Familienplanungskultur". D.h. jede und jeder ist sich sehr bewusst, dass ungewollte Schwangerschaften unter allen Umständen zu vermeiden sind. Die Zahl der unerwünschten Schwangerschaften ist daher sehr gering. 95% der erstgeborenen Kinder sind geplant. Nur etwa 2% sind völlig unerwünscht.

Eine unerwünschte Schwangerschaft und ein Schwangerschaftsabbruch werden als eine persönliche Fehlleistung erlebt. Schwangerschaftsabbruch ist also nicht eine Methode der Familienplanung. In den meisten Fällen ist die ungewollte Schwangerschaft auf ein Versagen der Verhütungsmethode zurückzuführen.

Massnahmen der Prävention

Die Einführung der Fristenregelung war gepaart mit einem starken Willen aller Kreise (Politik, Ärzteschaft, Frauenorganisatonen, Medien etc.), die Prävention voranzutreiben.

1. Intensive Sexualaufklärung
Die sexuelle und kontrazeptive Aufklärung in den Schulen ist obligatorisch. Sie findet aber auch ausserhalb der Schulen statt, in Form von öffentlichen Kampagnen und durch die Medien. Dabei wird immer versucht, an die konkreten Erfahrungen und Lebensbedingungen der Jugendlichen anzuknüpfen. Die Aufklärung erfolgt in Form eines offenen Dialoges und nicht als ein Aufdrängen moralischer Standpunkte. Das Ziel ist, die Menschen umfassend zu informieren und sie zu befähigen, im Bereich der Sexualität selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen.

Im Gegensatz dazu zeigt die Erfahrung in den USA, dass eine auf Enthaltsamkeit ausgerichtete Sexualerziehung nichts taugt. Die Abortrate bei Jugendlichen ist in den USA zehnmal so hoch wie in den Niederlanden. (vgl. Abortrate bei Jugendlichen im internationalen Vergleich, Tabelle "Schwangerschaftsabbrüche auf 1000 Frauen 15-19jährig").

2. Kostenlose Verhütung
Die Kosten von Pille, Spirale und Sterilisation werden durch die medizinische Grundversicherung gedeckt. D.h. dass diese Mittel für ungefähr 60% der Bevölkerung kostenlos sind.

3. Einfach zugängliche Familienplanung
Für die Familienplanung sind hauptsächlich die Hausärzte verantwortlich. Zwischen 80 und 90% der Niederländer wenden sich an ihren Hausarzt für diese Beratung. D.h. der Zugang zur Familienplanung ist psychologisch und örtlich sehr niederschwellig, "gleich um die Ecke". Daneben gibt es ein Netz von selbständigen ambulanten Familienplanungskliniken. Nur in sehr speziellen Fällen ist es notwendig, einen Spezialisten aufzusuchen.

4. Bei einem Schwangerschaftsabbruch steht Verhütung im Zentrum der Beratung
Jede Frau, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lässt, wird ausführlich über Verhütungsmethoden informiert und kann sofort die Pille, eine Spirale oder ein anderes Mittel bekommen. Deshalb kommen sogenannte Wiederholungsabbrüche verhältnismässig selten vor.

Das Resultat

Diese Massnahmen haben dazu geführt, dass in den Niederlanden die sichersten Verhütungsmethoden (Pille und Sterilisation) ausserordentlich häufig benutzt werden. Häufiger auch, als in den skandinavischen Ländern, wo die Pille nur bei Frauenärzten und nicht kostenlos erhältlich ist. Die Abortrate ist denn auch in Skandinavien deutlich höher als in Holland.

Verwendung zuverlässiger Verhütungsmethoden
(in Prozent der 15-44jährigen sexuell aktiven Frauen)

Land

Keine Unsichere Methode realiv sichere Methode sehr sichere Methode
Zyklusbeobachtung/
Coïtus interruptus
Mechanische Mittel Spirale Pille Sterilisation
Italien 30 26 23 15 6 0
Frankreich 24 12 9 19 31 5
Grossbritannien 10 4 17 8 38 23
Spanien 26 16 23 13 19 3
Deutschl.(West) 19 24 7 10 33 7
Österreich 18 12 16 7 42 5
Schweden 5 6 27 19 37 6
Niederlande 4 3 13 10 45 25
Nach Ketting / Quellen: Ketting 1990, Vennix 1990


In der Altersschicht der 20-24jährigen benutzen mehr als 80% der Holländerinnen die Pille! Die Anti-AIDS-Kampagnen vermitteln die Doppelbotschaft "Pille plus Kondom", um einen doppelten Schutz gegen ungewollte Schwangerschaft und sexuell übertragbare Krankheiten sicherzustellen (nicht umsonst wird diese Kombination die "double Dutch"-Methode genannt). Die Pille wurde daher nicht zugunsten des Kondoms aufgegeben, sondern beide Methoden werden oft kombiniert. Das hat auch eine erzieherische Wirkung: Mann und Frau werden beide in die Verantwortung genommen.

Bei nahezu der Hälfte der Paare im Alter von 35-50 Jahren, hat sich die Frau oder der Mann sterilisieren lassen. Ungefähr in 60% der Fälle ist es heute der Mann, der sich diesem Eingriff unterzieht.

Ferner ist die postkoitale Verhütung als Notfallmassnahme, wenn die Verhütung versagt hat oder vergessen wurde ("Pille danach"), allgemein bekannt. Sie wird in allen Informationen an die Bevölkerung erwähnt und ist beim Hausarzt problemlos erhältlich. Sie wird von der Sozialversicherung unter den gleichen Bedingungen bezahlt wie die Pille. Die "Pille danach" ist nicht der wichtigste Grund für die niedrige Abortrate in den Niederlanden, aber sie leistet einen Beitrag: Etwa 1’500 Abbrüche werden jährlich so vermieden. D.h. die Abortrate wäre sonst um ungefähr 10% höher (6,6 anstatt 6 auf 1000 Frauen).


DAS HOLLÄNDISCHE MODELL AUF DIE SCHWEIZ ÜBERTRAGEN:
Es bleibt noch einiges zu tun

Seit Beginn der 70er Jahre herrscht in Holland eine äusserst liberale Praxis des Schwangerschaftsabbruchs. Sie wurde 1984 gesetzlich sanktioniert und ist gekoppelt mit einer guten Präventionspolitik. Welche Schlüsse können aus der langjährigen niederländischen Erfahrung für die schweizerische Politik gezogen werden?

Die Schweiz ist seit längerer Zeit auf dem Weg der "Hollandisierung": Die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs hat sich in weiten Teilen des Landes deutlich liberalisiert. Fast überall ist Sexualerziehung in die Lehrpläne integriert. Allerdings lässt die Durchführung teilweise zu wünschen übrig. Die Verhütung ist bereits breit verankert und die Schwangerschaftsabbruchrate relativ niedrig. An die Zahlen der Niederlande kommen wir jedoch noch nicht heran.

Die Zahl der Abbrüche kann in der Schweiz sicher weiter gesenkt werden – nicht indem wir an der Fassade eines veralteten Abtreibungsgesetzes festhalten, an das sich ohnehin eigentlich niemand mehr hält. Auch nicht indem wir eine Zwangsberatung einführen, die viele Frauen weder wünschen noch brauchen. Der Weg dazu führt vielmehr über verstärkte Prävention.

Gebrauch von sehr sicheren Verhütungsmethoden :Vergleich Holland/Schweiz

Schwangerschaftsabbrüche im Kt. Bern:Ursache der ungewollten Schwangerschaft

Schweiz Holland

Keine Verhütung

1986 1996 1997
Pille, 20-24jährige Frauen 58% 80.5% Alle Frauen
Ausländerinnen
58%
51.4%
61%
48%
Pille, 20-49jährige Frauen 34.1% 43.6% Kondomversager
Sterilisation (Frau oder Mann), 45-49j. Paare 44.4% 54.2% Alle Frauen
Bei 15-19jähr.Frauen
7%
25%
39%
29%
Quellen: NL: Ketting / CH:Mikrozensus Familie, 1994/95 Quelle: Statistik des Kt. Bern


Die AIDS-Kampagnen in der Schweiz haben bisher allzu sehr nur das Kondom propagiert. Mit dem Erfolg, dass das Kondom heute sehr viel mehr gebraucht wird, dass aber mehr ungewollte Schwangerschaften auf einen Kondomversager zurückzuführen sind. Das Kondom ist ein guter Schutz gegen sexuell übertragbare Krankheiten, es ist aber weniger sicher als die Pille zur Schwangerschaftsverhütung. 1997 gaben 29% (!) der Frauen, die im Kanton Bern einen Schwangerschaftsabbruch beantragten an, wegen eines Kondomversagers schwanger geworden zu sein. 48% hatten kein Verhütungsmittel benutzt.

Zu treffende Massnahmen

Das holländische Beispiel beweist, dass es wirksam ist, die "Pille danach" als Notfallmassnahme breit zu propagieren und dass die Doppelbotschaft "Pille + Kondom" möglich ist und ankommt.

Eine weitere wichtige Massnahme wäre die Kostenübernahme für ärztlich verordnete Verhütungsmittel und die Sterilisation durch die Krankenversicherung. Ein entsprechender Vorstoss liegt vor dem Parlament.

Sexualerziehung und Familienplanungsberatung sind verbesserungsfähig, namentlich was die Ausbildung der Lehrkräfte, der angehenden Ärztinnen und Ärzte sowie von Sexualpädagogen betrifft. Familienplanungsstellen müssen besser dotiert werden, damit sie z.B. vermehrt gezielte Präventionsarbeit bei Migrantinnen und an Schulen leisten können.

Bekanntlich bestehen zudem gravierende Lücken bei der Mutterschaftsversicherung und der familienexternen Kinderbetreuung. Kurz: Es gibt viele Möglichkeiten für Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen, ihren Willen zum "Lebensschutz" wirksamer unter Beweis zu stellen als mit der Bekämpfung der längst fälligen Fristenregelung.


Homepage SVSS / USPDA