RUNDSCHAU Nr. 57, Februar 1999


ZUR ETHISCHEN GRUNDSATZDEBATTE ÜBER DIE ABTREIBUNG
Vielfalt des Lebens

In der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch beanspruchen die Abtreibungsgegner für sich, die Moral auf ihrer Seite zu haben und als Einzige für den "Schutz des Lebens" einzutreten. Das ist eine unannehmbare Anmassung.

Es ist nicht so, dass die eine Seite "fürs Töten" und die andere "für das Leben" wäre. Vielmehr stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Leben gegenüber. Während wir das Recht jedes Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben, auf lebendige Vielfalt verfechten, geht es den Abtreibungsgegnern um DAS Leben um jeden Preis, wobei sie "Leben" gleichzeitig biologistisch definieren, verabsolutieren und heilig erklären. Absichtlich werden von ihnen dabei die Begriffe "menschliches Leben", Individuum, Kind, Mensch, Person durcheinandergeworfen und missbräuchlich verwendet.

RECHT AUF LEBEN

Abtreibungsgegner fordern ein "Recht auf Leben" für den Embryo von der Befruchtung an. Eine entsprechende Volksinitiative wurde 1985 von den Stimmberechtigten mit 70 % Nein-Stimmen massiv verworfen. Zu Recht. "Nur bereits geborene Menschen sind Träger von Grundrechten", schreibt der Bundesrat 1996 in seiner Botschaft zur Revision der Bundesverfassung. Die Europ. Kommission für Menschenrechte hat erklärt, der Ausdruck "jeder Mensch" in Art. 2 der Europ. Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Leben garantiert, schliesse den Fötus nicht ein [Entscheide vom 13.5.80 und 19.5.92].

Verschiedene nationale Gerichtshöfe haben in gleicher Weise entschieden (Kanada, USA, Österreich, Frankreich, England, Belgien). Einzig das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seinem Entscheid von 1993 von einem "Recht auf Leben" des Embryos gesprochen. Damit hat es gleichzeitig dieses Recht bedenklich relativiert, bzw. sozusagen ein Lebensrecht zweiter Klasse geschaffen. Denn es hat dem Embryo keineswegs ein gleiches Recht zugestanden wie einem geborenen Menschen, sondern eine Fristenregelung mit Beratungszwang als zulässig erklärt.

Ähnlich fragwürdig ist die Argumentation des schweizerischen Bundesgerichts, wonach dem Embryo in vitro "Menschenwürde" zukomme. Auch der Begriff Menschenwürde wird dadurch relativiert [BGE 119 Ia, 1993]. Richtiger wäre der Ausdruck "Achtung", "Respekt".

MENSCH AB GEBURT

Abtreibungsgegner argumentieren, der Embryo sei von der Befruchtung an Mensch, weil mit der Kernverschmelzung alle Anlagen für die Entwicklung des Menschen bis zu seinem Tod – ohne irgendeine Zäsur – gegeben seien. Sie unterschlagen die wichtige Zäsur der Geburt, diesen "fundamentalen Wechsel der Welten" (Saner, 1995). Bis zur Geburt ist der Embryo nicht ein eigenständiges von der Frau unabhängiges Wesen, sondern mit ihr körperlich und seelisch verwoben, in einer ganz einzigartigen "Zweieinigkeit".

Niemand bestreitet, dass eine befruchtete Eizelle menschlich und lebendig ist. Es gibt aber verschiedene Stufen von Leben. Wir meinen: der Mensch ist mehr als bloss ein Chromosomensatz. Der Embryo ist noch nicht der Mensch, der er (vielleicht) werden kann. Mindestens bis zum 6. Schwangerschaftsmonat besitzt er noch keine jener Eigenschaften, die wir normalerweise mit dem Begriff "Person" verbinden (z. B. ein minimales Bewusstsein). Es ist hier kein Platz für eine ausführliche philosophische Abhandlung. Wir verweisen auf die Literaturangaben.

Die meisten nicht-katholischen aber auch nicht wenige katholische Philosoph/innen, Ethiker/innen und Theolog/innen machen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen vorgeburtlichem Leben und dem geborenen Menschen. Es sei "krasser biologischer Reduktionismus", einem befruchteten Ei den gleichen Wert beizumessen wie der schwangeren Frau, schreibt die christliche Sozialethikerin Beverly Harrison. Das tun auch nur wenige Menschen wirklich. Die meisten Menschen empfinden vorgeburtlichem Leben gegenüber eine gewisse Achtung und Wertschätzung, die stärker wird mit fortschreitender Schwangerschaft, wenn der Fötus einer menschlichen Person immer ähnlicher wird. Die Stärke dieser Wertschätzung – im Vergleich mit anderen Werten wie z. B. das Recht der Frau auf selbstbestimmte Lebensgestaltung – ist jedoch von Mensch zu Mensch verschieden. Es gibt darüber keinen Konsens in unserer Gesellschaft.

GEBÄRPFLICHT IST UNETHISCH

Der Kampf der Abtreibungsgegner für DAS Leben entpuppt sich letztlich als moralischer Kreuzzug gegen persönliche Freiheit und Selbstverantwortung. Sie verfechten eine "natürliche, gottgegebene" moralische Ordnung, eine sexual- und frauenfeindliche Ordnung, in welcher Frauen "berufen" sind zu gebären. Diese "Berufung" soll mit staatlichen Gesetzen zur Pflicht gemacht werden.

Das Abtreibungsverbot ist tatsächlich – andersherum formuliert – eine Gebärpflicht. Eine solche aber verletzt elementare Grundrechte der Frau. Das wird in der Diskussion über Abtreibung kaum thematisiert. Es gibt keine andere Entscheidung, die in vergleichbarer Weise das Recht auf Leben, auf körperliche Integrität, auf Gesundheit, auf Gewissensfreiheit und moralische Autonomie, auf persönliche Freiheit und Lebensgestaltung tangiert. Der Zwang, eine Schwangerschaft auszutragen und zu gebären, ist am ehesten mit Leibeigenschaft zu vergleichen (Harrison, 1991). Das aber ist eine Verletzung der Menschenwürde und ethisch sowie rechtsstaatlich nicht zu vertreten.

Fortpflanzungsfreiheit ist ein weltweit anerkanntes Grundrecht. 1995 wurde in der Aktionsplattform der Weltfrauenkonferenz in Peking festgehalten, das Recht der Frau, "über ihre eigene Fruchtbarkeit zu bestimmen, sei eine wichtige Grundlage für die Wahrnehmung anderer Rechte". Logischerweise muss dieses Grundrecht in letzter Konsequenz auch die Entscheidungsfreiheit in bezug auf den Schwangerschaftsabbruch einschliessen. Auch die beste Verhütung kann schliesslich versagen. Alle sind sich einig, dass niemand eine Frau zur Abtreibung zwingen darf – ebenso verwerflich ist ein Gebärzwang.

LEBENSSCHUTZ

Frauen treffen den Entscheid zum Schwangerschaftsabbruch immer in einem Kontext. Es ist nicht ein Entscheid zu töten, kein aggressiver Akt gegen einen Dritten. Es ist die Weigerung – oder der Verzicht – zu einem gegebenen Zeitpunkt, unter gegebenen Umständen, die eigene Leibesfrucht im eigenen Körper heranwachsen zu lassen und die grosse Verantwortung der Mutterschaft auf sich zu nehmen. Ein Kind zu bekommen ist eine der folgenschwersten Entscheidungen im Leben einer Frau. Sich dagegen zu entscheiden, ist immer auch eine Entscheidung FÜR etwas: für das eigene Leben, für dasjenige der Familie, für Kinder zu einem späteren Zeitpunkt, unter günstigeren Umständen. Es ist immer ein Entscheid in Verantwortung, im Abwägen der Folgen des eigenen Handelns.

Seit jeher haben Frauen sich in bestimmten Situationen zur Abtreibung entschieden. Die weltweite Erfahrung lehrt, dass Abtreibungsverbote sie nie davon abgehalten haben. Abtreibungsverbote sind also kein taugliches Mittel, um "Leben zu schützen", vielmehr gefährden sie Leben und Gesundheit der Frauen, indem sie sie in die Illegalität treiben.

Wer die Zahl der Abtreibungen möglichst gering halten will – und das wollen wir alle – muss sich für die Prävention ungewollter Schwangerschaften einsetzen, nicht für die Kriminalisierung von Frauen und Ärzt/innen. Wer Leben schützen will, muss sich für den Schutz von Lebensperspektiven für Frauen und Familien einsetzen, muss alles daran setzen, dass jedes Kind ein erwünschtes Kind sein darf und Voraussetzungen schaffen, damit Mutterschaft selbstbestimmt und mit Freude gelebt werden kann.

FASSEN WIR ZUSAMMEN

  • Der Embryo ist noch nicht Mensch, er ist kein Rechtssubjekt und hat daher keine "Rechte", auch kein "Recht auf Leben".
  • Als eine Form menschlichen Lebens und in Anbetracht dessen, was aus ihm werden kann, verdient er Achtung und ist als Rechtsgut (nicht Subjekt!) vor Eingriffen Dritter zu schützen (z. B. Embryo in vitro). Der moralische Wert dieses Rechtsgutes nimmt mit fortschreitender Entwicklung zu.
  • Die Frau ist nicht eine dem Embryo gegenüberstehende Drittperson. Sie bildet mit der in ihrem Körper heranwachsenden Frucht eine mit nichts anderem vergleichbare "Zweieinigkeit". Nur sie kann befugt sein, über Abbruch oder Fortsetzung dieser Beziehung zu entscheiden.
  • Die elementaren Persönlichkeitsrechte der Frau, ihre Menschenwürde werden durch ein Abtreibungsverbot (d. h. eine Gebärpflicht) massiv verletzt.
  • Die Grundrechte der Frau, ihre Entscheidungsfreiheit, haben grundsätzlich Vorrang vor Werten, die nicht den Rang von elementaren Grundrechten haben. Frauen haben ein Recht auf IHR Leben.
  • Lebensschutz muss sich an geborenem Leben erweisen.


Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs:

Nein zur obligatorischen Beratung

Madeleine DENISART, Familienplanungsberaterin und Mitglied der Schweiz. Gesellschaft für das Recht auf Abtreibung und Verhütung (SGRA) erläutert, warum aus ihrer Sicht eine obligatorische Beratung abzulehnen ist.

Die Fachleute, die beruflich mit psychosozialer Beratung zu tun haben, halten eine obligatorische Beratung für verfehlt. Eine Beratung soll den Ratsuchenden von Nutzen sein. Mit einer Zwangsmassnahme ist das nicht zu erreichen.

Die Pflicht der Arztperson

Die ganze Diskussion basiert auf einem Irrtum. Jene Kreise, die die Zwangsberatung fordern, geben vor, diese erlaube es den Frauen, ihre Gründe für den Schwangerschaftsabbruch mit einer kompetenten Person zu besprechen und Unterstützung zu finden. Ohne Beratungspflicht blieben sie in diesem schwierigen Moment sich selbst überlassen. Das trifft nicht zu. Es braucht eine ärztliche Untersuchung und Abklärung. Um auf die Bedürfnisse der Frau eingehen zu können, muss die Arztperson die Hintergründe dieser Schwangerschaft und das Motiv des Abtreibungswunsches verstehen.

Wie bei jeder Behandlung sollte zwischen Arztperson und Patientin ein Dialog stattfinden. Die psychosoziale Ausbildung der Ärzt/innen ist zweifelsohne verbesserungswürdig, nicht nur in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch. Die Zwangsberatung bei einer zweiten ärztlichen oder psychosozialen Instanz trägt jedoch nicht dazu bei. Sie wird Gynäkolog/innen nicht veranlassen, sich vermehrt um die psychosoziale Betreuung der Patientinnen zu kümmern und ihre Leistungen über das Technische hinaus zu verbessern. Wichtig ist vor allem, dass der Schwangerschaftsabbruch nicht mehr als erniedrigende Tätigkeit betrachtet wird, sondern als Bestandteil des Pflegeangebotes, wo ärztliche Technik und Betreuung laufend zu verbessern sind.

Nicht im Strafgesetz

Es braucht kein Gesetz, um Betreuungsrichtlinien für den Schwangerschaftsabbruch aufzustellen. Solche Richtlinien werden im Rahmen von Gesundheitsprogrammen oder durch die Pflegeanstalten aufgestellt, nicht im Strafgesetz. Das funktioniert heute bei den HIV/Aids-Tests: Vor dem Test wird ein Informationsgespräch geführt, in welchem auf die spezielle Situation der Betroffenen eingegangen und die nötige Unterstützung angeboten wird. Es funktioniert ebenso in Zentren, die Sterilitätsbehandlungen durchführen oder wenn eine Unterbindung gewünscht wird. Wo immer es um Fragen von Sexualität oder Fortpflanzung geht, ist den Ratsuchenden eine qualitativ hochstehende Information und Begleitung durch ein multidisziplinäres Team anzubieten. So z. B. bei einer Fehl-, Früh- oder Totgeburt oder bei gesundheitlichen Problemen nach der Geburt.

Das Aufstellen von Richtlinien erlaubt den Teams, sich grundsätzliche Überlegungen zu machen. Es bedeutet eine Aufwertung ihrer Arbeit. Im Rahmen einer restriktiven Gesetzgebung findet dies in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch sicher nicht statt.

Migrantinnen als Argument

Manchmal wird die Zwangsberatung als einzige Möglichkeit dargestellt, um Frauen, die in prekären Verhältnissen leben, die Verhütung näherzubringen: Migrantinnen, Asylsuchenden, Schwarzarbeiterinnen. Es ist völlig unangebracht, Frauen aus fremden Kulturen zu benützen und Frauen in verschiedene Kategorien zu unterteilen, um ein restriktives Gesetz zu begründen. Es ist zudem nicht einzusehen, weshalb eine Zwangsberatung den Migrantinnen mehr nützen sollte als den Schweizerinnen.

Migrantinnen wenden sich im Übrigen meist an öffentliche Dienste, wo eine Betreuung angeboten wird. Eine Beratung aufzuzwingen ist sinnlos. Vielmehr ist die Qualität der Angebote zu verbessern und zwar in allen Bereichen des Gesundheitswesens, mit Übersetzungsdiensten, die eine echte Verständigung zwischen Pflegenden und Patientinnen verschiedener Kulturen und Sprachen ermöglichen.

Fehler anderer vermeiden

Die Zwangsberatung würde im Strafgesetz stehen. Das ist alles andere als harmlos. Die Bevormundung der Frau wird damit aufrechterhalten. Das Gutachten als Voraussetzung für die Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch wird ganz einfach durch die Zwangsberatung ersetzt .

Die Schweiz kann sich heute auf jahrelange Erfahrungen mit der Fristenregelung in vielen andern Ländern Europa’s stützen. An Kongressen berichten deutsche Fachleute jeweils über die Schwierigkeiten, die ihnen und den betroffenen Frauen durch die gesetzliche Pflichtberatung entstanden sind. Wir sollten die Fehler anderer vermeiden.


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