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1988 hat das Oberste Gericht Kanadas das bis dahin geltende Abtreibungsgesetz ungültig erklärt. Seither ist Abtreibung in Kanada vollständig entkriminalisiert und unterliegt einzig denselben Bestimmungen wie jeder andere ärztliche Eingriff.
Der Versuch der Regierung, ein neues Abtreibungsgesetz einzuführen, scheiterte 1991 im Parlament.
Die Erfahrung der vergangenen acht Jahre in Kanada lehrt: es geht auch ohne Gesetz und Strafparagraphen. Die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs gestaltet sich nicht anders als in andern liberalen Ländern, die die Abtreibung aber immer noch im Strafgesetz regeln.
Als eine Volksinitiative 1971 in der Schweiz die Abtreibungsparagraphen abschaffen wollte, prophezeiten Abtreibungsgegner eine Flut von Abtreibungen und von unüberlegten Entscheiden. Ein Jurist erklärte, es könnte dann auch ein Metzger noch fünf Minuten vor der Geburt ungestraft eine Abtreibung vornehmen. Nichts dergleichen ist in Kanada eingetreten.
Die Abtreibungsrate ist in Kanada in den letzten Jahren leicht angestiegen. Sie lag aber 1993 mit 15,3 Abbrüchen pro 1000 15-44jährige Frauen nicht über derjenigen vieler europäischer Länder (Dänemark: 16,3; England: 14,8; Norwegen: 16,1). Neuere Zahlen. 92% der Eingriffe werden in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten durchgeführt, nur 2% nach der 16. Woche (meist wegen einer schweren Schädigung des Fötus).
Wie vor jedem medizinischen Eingriff sind Ärztinnen und Ärzte gesetzlich verpflichtet, die Patientin umfassend zu informieren und sicherzustellen, dass sie ihren Entscheid selbstverantwortlich und in voller Kenntnis aller Umstände trifft.
Richtlinien der Kanadischen Ärztegesellschaft legen fest, dass den Frauen professionelle Beratung angeboten werden muss. Wie Untersuchungen belegen, treffen die meisten Frauen ihren Entscheid wohlüberlegt, nachdem sie sich mit ihrem Partner und/oder anderen Bezugspersonen besprochen haben. Frauen, die noch schwanken, werden routinemässig an eine spezialisierte Beratungsstelle überwiesen.
Es gibt keine Hinweise, dass in Kanada die Verhütung vernachlässigt würde: 76% der Kanadierinnen wenden eine Verhütungsmethode an, gleich viele wie in andern Industrieländern. 50% der ungewollten Schwangerschaften sind auf ein Versagen der Verhütung zurückzuführen (dies entspricht den Zahlen aus dem Kanton Bern).
Andrerseits hat die Ausserkraftsetzung der Abtreibungsparagraphen nicht alle Probleme schlagartig beseitigt. Immer noch bestehen regionale Unterschiede: Es hängt vom Willen der lokalen politischen Behörden und der Ärzteschaft ab, wie gut oder wie schlecht in einer Region die Gesundheitsversorgung im Bereich Schwangerschaftsabbruch funktioniert. Nicht alle Provinzen haben genügende Infrastrukturen geschaffen, damit Frauen eine ungewollte Schwangerschaft in der Nähe ihres Wohnortes abbrechen lassen können. Der Abtreibungstourismus ist daher 1996 in Kanada noch nicht verschwunden.
Die Geschichte der Abtreibung in Kanada ist diejenige des Arztes Dr. Henry Morgentaler. 1969 trat ein neues Abtreibungsgesetz in Kraft, das den Eingriff in einem Spital erlaubte, wenn eine Spitalkommission aus mindestens drei Ärzten befand, die Schwangerschaft gefährde Leben oder Gesundheit der Frau. Viele Spitäler setzten aber gar keine solche Kommission ein. Das Gesetz wurde von einem Ort zum andern verschieden interpretiert. Frauen mussten bis zu acht Wochen warten.
1969 eröffnete Dr. Henry Morgentaler seine erste Klinik in Montreal, wo er Abtreibungen ohne Zustimmung einer Spitalkommission vornahm. Ein Jahr später wurde er wegen illegaler Abtreibung angeklagt. Nachdem das Oberste Gericht Kanadas 1975 seine Appellation abgelehnt hatte, verbüsste er 10 Monate im Gefängnis.
Er gab nicht auf. 1983 eröffnete er zwei weitere Kliniken in andern Provinzen. Wieder folgten Strafklagen und Gerichtsverfahren, die schliesslich im Januar 1988 zur Ungültigerklärung der Abtreibungsparagraphen durch das Oberste Gericht führten.
Das Abtreibungsgesetz verstosse gegen das Recht auf Leben, Freiheit und
Sicherheit der Person, befand das Gericht. Eine Frau unter Strafandrohung
zum Austragen einer ungewollten Schwangerschaft zu zwingen, ausser sie
genüge bestimmten Kriterien, die mit ihren eigenen Prioritäten und
Lebenszielen nichts zu tun hätten, bedeute eine tiefgreifende Verletzung
ihrer körperlichen Integrität, heisst es in der Urteilsbegründung.
Urteil des Kanadischen Gerichts 1988
1989 entschied das Gericht ferner, der Fötus besitze kein Recht auf Leben und keine Persönlichkeitsrechte. Ebenso verneinte es ein Recht des potentiellen Vaters, eine Abtreibung bei seiner Partnerin zu verhindern. Die Klage eines Mannes, der – unter Berufung auf ein Recht auf Leben des Fötus – seine Ex-Freundin zum Austragen zwingen wollte, wurde abgelehnt.
1993 erzielte Dr. Morgentaler einen weiteren Sieg: Das Oberste Gericht befand, die Provinzen dürften Schwangerschaftsabbrüche nicht auf öffentliche Spitäler beschränken. Dr. Morgentalers Kampf geht indessen weiter. Er will jetzt erreichen, dass in allen Provinzen die staatlichen Krankenversicherungen die Kosten des Eingriffs auch in Privatkliniken übernehmen müssen, gleich wie in den öffentlichen Spitälern. Mit dem Aufbau eines Netzes solcher Kliniken hat Dr. Morgentaler den Zugang der Frauen zum legalen Schwangerschaftsabbruch wesentlich verbessert.