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Marie aus Berlin
Ich spürte, dass etwas nicht stimmen konnte. Meine Regelblutung blieb
aus, mein Kreislauf schwankte und ich fühlte mich generell unwohl. Ich
kaufte einen Schwangerschaftstest. Als dieser mir das Ergebnis zeigte,
war ich geschockt. Zwei Striche. Schwanger. Ich schaute den Streifen
eine Ewigkeit schweigend an, bis ich in Tränen ausbrach.
Ich habe oft davon geträumt, wie es sein wird, wenn ich erfahre, dass
ich schwanger bin. Solche Gedanken waren freudvoll. Und sie spielten in
einer anderen Zeit. Nicht mitten in meiner Ausbildung zur
Heilerziehungspflegerin und mitten in der Lehre meines Freundes, nicht
in finanziellen Engpässen, nicht mit dreiundzwanzig, nicht nach gerade
mal zweieinhalb Jahren Beziehung. Nicht in dieser Wohnung, nicht in
diesem Stadtteil, nicht in dieser Phase meines Lebens.
Das machte den Unterschied. Der Zeitpunkt war falsch. Da war keine
Freude. Als mein Freund nach Hause kam, erzählte ich ihm die Neuigkeit,
die auch ihn absolut unerwartet traf. Ich griff zum Hörer und wählte die
Nummer meiner Frauenärztin. Eine Woche später saß ich – gemeinsam mit
meinem Freund – vor ihr. Sie machte einen Ultraschall, der die
endgültige Gewissheit brachte. Ich schaute auf den Monitor, in der
Hoffnung, dass mich doch mütterliche Gefühle überkommen könnten. Wieder
ein regungsloser Blick und der Gedanke "Oh bitte nicht, nicht jetzt. Das
ist nicht richtig".
Meine Ärztin entgegnete mir vorwurfsvoll, dass ein Abbruch das Töten
eines Lebens bedeutet. Auch nach den Schilderungen meiner derzeitigen
Lebenssituation, bekam ich kein Verständnis. "Es wurden auch schon
Kinder in Hungersnöten und in Kriegen geboren". Was für Argumente.
Vorwurfswolle Blicke. Auch erzählte sie mir, dass viele ihrer
Patientinnen, die einen Abbruch hinter sich haben, starke psychische
Probleme haben und manche aus diesem Loch nicht wieder raus fanden. Als
ich das Arztzimmer bereits verlassen hatte, kam mir die Ärztin nach und
drückte mir zahlreiche Schwangerschaftsbroschüren in die Hände. "Für den
Fall, dass Sie es sich doch noch überlegen", sagte sie.
Irgendwie hatte ich mir das Gespräch mit ihr anders vorgestellt.
Psychische Probleme lassen sich durch außen gut suggerieren, selbst wenn
man hinter seiner Entscheidung steht. Klar, die Frau ist Fachärztin für
Geburtshilfe. Wieso sollte sie also Abbrüche gutheißen? Dennoch hätte
ich mir gewünscht, dass sie neutraler mit meinem Wunsch umgeht, ihm keine
moralische Wertung beimisst. Denn meiner Meinung nach, haben Menschen,
die nicht in derselben schwierigen Situation stecken, kein Recht dazu.
Nach der Untersuchung war ich völlig niedergeschlagen und fürchtete den
mir bevorstehenden Beratungstermin. Bin ich ein schlechter Mensch, weil
ich keine Muttergefühle habe? Diese Frage stellte ich mir und ich
wusste: Hätte ich beim Anblick des Ultraschalls auch nur minimalste
positive Gefühle erfahren, hätte ich mich gegen einen Abbruch
entschieden. Für mich war da kein Embryo, kein Wunder des Lebens, in
meinem Gefühl hatte ich ein 4 Millimeter großes Problem in der
Gebärmutter. Wegen dieser Empfindung machte ich mir schwerwiegende Vorwürfe.
Der Beratungstermin verlief hingegen positiv, da der beratende Arzt
wertfrei und neutral mit mir sprach. Nach dem Beratungstermin folgte
eine Zeit langer Überlegungen. Mein Freund und ich redeten häufig
darüber, wir erstellten eine pro kontra Liste, redeten mit unseren
Eltern und horchten in uns hinein. Der feste Entschluss für einen
Abbruch ist nicht einfach mal eben gefasst. Wir spielten viele
erdenkliche Szenarien im Kopf durch. Die Kontra-Seite unserer Liste
überwog. Die Pro-Seite gab wenig her, außer große Schwangerschaftsbrüste
(kleiner Witz am Rande). Es folgte die sprichwörtliche Achterbahnfahrt
der Gefühle. Ich dachte fast ununterbrochen an diese
Schwangerschaftssache. Ich redete mit zwei engen Freunden, die mich
ebenfalls unterstützten und Verständnis zeigten.
War ich in der U-Bahn oder generell unterwegs, hatte ich das beklemmende
Gefühl, dass mich die Babys aus den Kinderwagen anderer Leute
vorwurfsvoll ansehen. "Wie kannst du nur?", schienen sie mir sagen zu
wollen. Ich hatte ständig ein bestimmtes Lied von Leonard Cohen im Ohr
und schaute mir dummer Weise die Websites der sogenannten
Abtreibungsgegner an, die mir mit all ihren Vorwürfen sehr zusetzten.
Wie können diese Menschen nur über Leute urteilen, die sie nicht kennen,
deren Gefühlserleben und Sorgen sie nicht teilen? Furchtbar,
engstirniges schwarz/weiß-Denken. Die wenigen Wochen waren zermürbend
und dauerten eine Ewigkeit an. Gut, dass ich mich durch den Beistand
meines Partners und den Rückhalt meiner Familie nicht allein gelassen
fühlte.
Wenige Tage vor der Operation verschwanden meine Bedenken, ohne, dass
ich direkt Einfluss darauf nahm. Ich fühlte mich nicht mal mehr
schwanger. Und ich rauchte eine Zigarette und trank ein Glas Bier. Ich
hatte aufgehört, als ich von der Schwangerschaft erfuhr. Für den Fall,
dass ich doch einen Sinneswandel bekomme.
Der Griff zur Zigarette, das Anzünden und daran ziehen und das Ausatmen
– das war der konkrete Wendepunkt. Ab da wusste ich mit absoluter
Sicherheit, dass ich diesen Schritt gehen werde. Mir schmeckte Kaffee
wieder, ohne dass mir schlecht wurde. Seelisch fühlte ich mich wieder
wie vor der festgestellten Schwangerschaft. Und das war ein gutes
Gefühl. Psychisch war der Abbruch bereits geschehen. Die Angst vor einer
nahen und unvorbereiteten Zukunft mit einem Kind wich nun der Angst vor
der OP. Ich dachte nicht mehr an den Embryo, sondern nur noch an die
Risiken, die durch einen Abbruch drohen. Wie egoistisch.
Die Frauenärztin belehrte mich über den Ernstfall, der bei der
operativen Absaugmethode eintreten kann. Herausnahme der Gebärmutter.
"Super selten, aber ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen". Herr je,
dachte ich. Ich brauche meine Gebärmutter noch, auch wenn es momentan
nicht den Anschein macht. Ich fuhr jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit und
zur Schule mit der Bahn an der ambulanten OP-Zentrale vorbei, jedes Mal
mit flauem Gefühl.
Ich wurde an vanillafarbenen Wänden, die mit beruhigenden Bildern von
Weizenfeldern und Obstkörben behangen waren, in den kleinen OP-Saal
gefahren. Auf dem OP-Tisch, der einem normalen
Gynäkologie-Behandlungsstuhl glich, wurde sofort das Narkosemittel
verabreicht. "Denken Sie an etwas Schönes" – ehe ich an etwas Schönes
denken konnte, war ich auch schon weg und wachte im Aufwachraum mit dem
regelmäßigen Piepen meiner Herztöne wieder auf. Die Schwestern waren
allesamt sehr freundlich. "Ist denn alles gut gegangen? Noch alles drin?
Also alles, was ich drin haben möchte?" – Ja, die OP verlief ohne
Ernstfälle. Erleichterung. Ich hatte leichte Schmerzen, vergleichbar mit
Krämpfen einer Regelblutung. Ich wollte nur noch zu meinem Freund, der
nun seit über zwei Stunden im Warteraum saß und ihn umarmen. Eine halbe
Stunde später konnte ich aufstehen und die Klinik verlassen. Micha trug
mich die fünf Stockwerke in unsere Wohnung, machte mir Tee und etwas zu
Essen. Am Abend rief eine Mitarbeiterin meiner Frauenärztin an und erkundigte sich nach
meinem Befinden – es ging mir gut, ich war nur etwas müde.
Am Tag danach war ich traurig. Ich weinte manchmal. Nein, ich verspürte
keinen Verlust oder wünschte mir die Schwangerschaft zurück. Ich
wünschte mir nur, dass es zu dem Zeitpunkt gar keine Schwangerschaft
gegeben hätte. Die vergangenen Wochen waren schwer und benötigten ihre
Zeit, um verdaut zu werden.
Der Eingriff ist jetzt vier Tage her. Hier und da zwickt es manchmal
noch. Ich bin weder in ein tiefes Loch gefallen, noch bin ich froh. Es
ist ein seltsames Gefühl. Einerseits bin ich erleichtert, andererseits
ist alles, was passiert ist, natürlich kein Grund um vor Freude in die
Luft zu springen. Es tut mir leid, dass es so gekommen ist – aber ich
würde mich, wäre die Zeit zurückgedreht, wieder so entscheiden.
Ihr müsst diese Entscheidung treffen. Es ist euer Leben. Und wieso
sollte das potentielle Leben, das sich ungeplant in euch entwickelt und
noch nicht eigenständig leben kann, über euer Leben gestellt werden? Ihr
habt das Recht dazu, selbst zu entscheiden, wann ihr Mutter werden
möchtet und wie euer Leben verläuft. Ihr habt das Recht dazu, egoistisch
zu sein. Natürlich darf euch niemand zu diesem Entschluss zwingen oder
euch manipulieren. Das gilt aber auch für im Umkehrschluss. Keine
Drittperson hat das Recht dazu, über den weiteren Verlauf eures Lebens
zu bestimmen.
Viele Gegner des Schwangerschaftsabbruch propagieren, dass viele
Beziehungen nach einem Abbruch auseinander gehen. Meine Beziehung wurde
hingegen gestärkt. Wir haben diese schwere Zeit gemeinsam
durchgestanden, standen uns zur Seite.
Ich freue mich, dass ich meine Ausbildung weiterführen kann. Ich freue
mich, dass sich mein Leben nicht auf den Kopf stellt. Ich freue mich,
dass ich noch nicht einer Rolle entsprechen muss, für die ich derzeit
(noch) nicht bereit bin. Ich freue mich darauf, Mutter zu werden. Zum
für mich richtigen Zeitpunkt. Auf den Schwangerschaftsabbruch an sich
werde ich mit großer Wahrscheinlichkeit dennoch immer mit sehr
gemischten Gefühlen zurückblicken.
Abschließend möchte ich das Zitat eines Arztes niederschreiben, das ich
auf dieser Homepage, die mir sehr geholfen hat, gefunden habe:
"Föten sind ein Wunderwerk der Natur. Ohne Mut und Freude der
schwangeren Frau jedoch fehlt ihnen der Boden, auf dem sie gedeihen
können." (Peter Frei)