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Karen
… Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich dabei meine drei anderen Kinder
versorgen sollte. Ich versuchte mir auch das Baby in meinem Bauch
vorzustellen. Ich war mir anfänglich fast sicher, dass es ein Mädchen
sein würde. Weil mir so übel war und der Zeugungspunkt so früh. Ich
habe mir immer Mädchen gewünscht, hatte aber 2 Jungs bekommen. Ich habe
Stunden damit verbracht, in die Zukunft zu schauen. Es wird bestimmt
wieder hübsch und klug sein. In Gedanken habe ich den Kaiserschnitt schon
geplant und die Kinder bei der Verwandtschaft untergebracht. Die Zeit im
Krankenhaus fand ich immer ganz schön, dort wurde ich rund um die Uhr
versorgt, jeder war um mich bemüht. Ich konnte mich ganz um mich und mein
kleines Baby kümmern. Das konnte ich mir fast vorstellen. Auch habe ich
schon nach Namen gesucht.
Aber das große ABER ist vor allem die Zeit danach. Da habe ich dann vier
Kinder zu versorgen, wo ich doch jetzt schon mit meinen drei oft an meinen
Grenzen bin. Nicht körperlich aber psychisch. Ich leide sehr unter dem
Verhalten meiner Kinder. Gerade der Große bringt mich permanent aus
meinem seelischen Gleichgewicht. Ich möchte nicht so einfach von ihm
beiseite gestellt und ignoriert werde. Ich wünsche mir von allen diese
bedingungslose Liebe, die mir der Kleine entgegenbringt, dieses freudige
Lachen und Umarmen, dieses Suchen nach Nähe. Dann kann ich glücklich und
entspannt sein. Aber der Alltag mit den beiden Großen sieht ganz anders
aus. Auch vom Mädchen fühle ich mich abgelehnt. Ich kämpfe den ganzen
Tag. Und ich leide darunter, nicht ihre Seelen zu berühren. Sie
ignorieren mich, wo sie können oder provozieren mich und ziehen alle
anderen mir vor. Diese Ablehnung macht mich verbittert und hart. Das ist
ein täglicher Angriff auf mein Selbstwertgefühl. Es belastet mich und es
überlastet mich, weil ich nicht in der Lage bin, die Rolle der Bösen zu
durchbrechen, so zu sein, wie ich gerne wäre.
Dazu kam, dass ich auch keinen Abstand und keine Auszeit finde, erschöpfte
Reserven wieder aufzufüllen. Auch wenn es mein Mann nicht wahrhaben will,
ist unser Familienleben eher unterdurchschnittlich. Er arbeitet sehr viel.
Es fallen sehr viele Samstage zum Opfer, wertvolle Zeit für mich, die
verloren geht. Sonntags ist man vom Rest der Woche meist so erschöpft,
dass man dann doch lieber ausruht als sich in Aktivitäten zu stürzen,
die mit unseren Kindern in der Regel im Stress und Streit enden. Aber
gerade dies verbinde ich mit schönen Kindheitserinnerungen und dies gibt
mir Geborgenheit und Gemeinschaftsgefühl. Dies vermisse ich so sehr. Und
die Chance, es mit vier Kinder irgendwann zu verwirklichen ist so klein.
Ein weiteres Kind, auch wenn es ein Mädchen gewesen wäre, hätte die
ganze Situation nicht verbessern sondern nur noch verschärfen können. So
sehr ich es mir auch gewünscht hätte, für dieses Kind habe ich nicht
die Kraft und den Mut. Es macht mich so traurig.
Es macht mich auch sehr traurig, dass ich meinem Mann so großen Schmerz
zugefügt habe. Ich habe rund um die Uhr mit mir gerungen, ob ich ihm
dieses zumuten kann. Oder ob ich aus Liebe sein Kind bekommen soll. Das
habe ich ihm nicht so sehr gezeigt, weil ich bei ihm keine Hoffnungen schüren
und die Enttäuschung nicht noch vergrößern wollte. Er hätte es gerne
behalten. Seine Tränen taten mir sehr weh. Ich war hin- und hergerissen.
Ich hätte ihm so gern sein Kind geschenkt. Er dachte sicher, ich bin
herzlos.
Ich bin nicht herzlos. Ich habe der Realität ins Auge gesehen. Ich habe
mich erinnert an den Tag, an dem wir dieses Kind gezeugt haben. Es waren
Ferien. Und trotzdem hatten wir Ärger miteinander. Für einen
Familienurlaub war keine Zeit. Darüber hatten wir Streit und auch über
die Art der Kindererziehung, über meine Rolle in der Familie. Und eine
Freundin musste vermitteln und hatte versucht, meinem Mann deutlich zu
machen, dass ich schon damals damit überfordert war. Ich war von früh
bis spät mit putzen beschäftigt, ohne Anerkennung, ohne Abstand, ohne
Erfolgserlebnisse. Viel allein mit den Kindern. Und das seit 7 Jahren. Wir
hatten uns auf eine Putzfrau geeinigt, um mir ein bisschen Freiraum zu
schaffen.
Dies war die Ausgangslage, die mich in Panik versetzt hat. Es wird keine
Liebe größer oder stärker werden. Es wird nichts leichter werden.
Unsere 3 Kinder werden nicht von heute auf morgen friedlich und liebevoll
werden. Ich sorge mich sehr um den Großen. Es zerreißt mir jetzt schon
das Herz, wie ich ansehen muss, dass er an den alltäglichen Normen zu
scheitern droht. Ich möchte ihm das beste geben und schaffe es nicht. Bei
meinem Mädchen sehe ich ebenso mit gemischten Gefühlen in die Zukunft.
Sie wird ihren Weg besser gehen, aber auch sie legt sich immer selbst
Steine in den Weg. Wahrscheinlich hätte auch der Kleine noch große
Eifersucht gegen das Geschwisterchen bekommen. Er hätte jetzt am meisten
verloren, weil er ganz auf mich bezogen ist. Und vielleicht hätte ich
dadurch seine Nähe verloren. Ich wäre unausgeschlafen und vom Stillen
erschöpft, hätte noch weniger Verständnis und Geduld für die Zicken
der anderen. Ich schaffe es in der Früh nur mit Schimpfen und Drohen,
dass die zwei pünktlich im Kindergarten sind. Wie soll ich dies schaffen,
wenn ich noch ein Baby stillen, wickeln, anziehen soll, das vielleicht
wieder ein problematisches Schreikind sein kann und keinen Rhythmus hat
oder einen anderen als meine Uhr vorsieht. Ein problematisches Schreibaby
hatten wir bereits. Ich habe nur Ungewissheiten gesehen.
Aber nun war keine Zeit mehr, die Zukunft zu planen. Es gab nur ein JA für
den Rest des Lebens oder ein NEIN, mit der Gewissheit, dass Narben
bleiben, die dann irgendwann verblassen. Ein Gewinnen war sowieso nicht
mehr möglich. Dass ich dies nicht allein schaffen würde, war mir klar.
Und die Gesellschaft hat in der Regel auch kein Verständnis für eine überforderte
Mutter von vier Kindern, geschweige denn Anerkennung für ihre Leistung.
Nicht einmal meine eigenen Eltern hätten mich verstanden. Und da ich ein
überaus ängstlicher Mensch bin, noch dazu ein Pessimist, konnte ich mich
nicht dafür entscheiden.
Bis zu dem Sonntag Abend, an dem ich endgültig den Entschluss gefasst
habe, mich von dem Baby zu trennen, war ich von Panik und Angst erfüllt.
Ich hatte permanent einen Kloß im Hals, Beklemmungen, Herzrasen, Schweißausbrüche,
konnte nicht entspannt atmen. Kann sich ein Baby unter diesem
Stresseinfluss gut entwickeln? Hätte ich doch noch Zutrauen in mich
selbst bekommen und Vorfreude? Ich weiß es nicht. Ich war nur selbst enttäuscht.
Ich möchte mein Leben allein und gut meistern können mit Hilfe meines
Mannes. Ich möchte nicht jahrelang auf Hilfe der Verwandtschaft
angewiesen sein, um mein und unser Leben regeln zu können. Dafür habe
ich keine Möglichkeit gesehen. Letztlich war mein Entschluss, dieses Baby
nicht zu bekommen, für mich rational der einzige Weg. Ich habe mich von
ihm verabschiedet, habe mir die Ultraschallfotos angeschaut, habe mich
entschuldigt.
Mit diesem Entschluss ist eine plötzliche Ruhe in mich eingekehrt, für
zwei Tage.
Die OP an Dienstag habe ich entspannt und ohne Angst über mich ergehen
lassen. Ich war bereits in der 10. Woche. Ich hatte eine Vollnarkose. Als
ich aufwachte, war ich ruhig und erleichtert. Keine Schmerzen. Ich war
nicht mehr schwanger. In Gedanken war ich nur bei meinem Mann. Wie wird er
mich anschauen? Ich hatte Angst davor. Und als er mir den Strauß Rosen
gab, war ich ergriffen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte das Gefühl,
alles wird gut.
Aber wie viel Rationalität steckt in einem Menschen? Gefühle kommen und
gehen, sind irrational.
Die ersten zwei Tage hat diese Ruhe angehalten, ich hatte mit den
Nebenwirkungen des Methergin zu kämpfen. Mein Gesicht war aufgeschwollen,
ich hatte leichte Gesichtslähmungen und Sehstörungen, immer mal wieder
Schweißausbrüche. Am Donnerstag, dem dritten Tag danach habe ich sehr
viel geweint. Ich habe auch am zweiten, dritten Tag nach der Geburt meines
Jüngsten im Krankenhaus geweint, immer wieder. Damals waren es die
Hormone, die Umstellung von schwanger auf normal. Nun ist es mehr. Nun
trauere ich auch..
Vielleicht ist es auch wieder der Hormonumschwung oder notwendige
Aufarbeitung. Ich habe es in meinem Herzen, es war da und es wird immer da
bleiben. Das war der einzige Platz, den ich ihm geben konnte. Aber es
beruhigt mich nicht. Ich weiß, dass ich mich im Mai daran erinnern werde,
jetzt würde es geboren. Das war mir vorher schon bewusst. Ich will es gar
nicht vergessen. Und ich habe ein ganz tiefes Bedürfnis nach Zuwendung zu
meinem Mann. Ich möchte ihn ganz nah bei mir haben, in seinem Arm liegen.
Ich traue mich noch nicht, ihm in die Augen zu sehen, weil es meine
Schuldgefühle und mein Versagen nur noch vergrößert. Er leidet auch
sehr, versucht aber für mich stark zu sein. Er hatte auch um meine
Gesundheit Angst und hätte sich gesundheitliche Schäden bei mir nie
verzeihen können, konnte es deshalb nicht beschützen. Das nagt sehr an
ihm, treibt ihm auch immer mal wieder Tränen in die Augen. Aber er gibt
mir die Sicherheit, das diese Entscheidung von ihm mitgetragen wurde.
Im nachhinein schäme ich mich sehr. Ich möchte mich verkriechen und
lange Zeit nicht mehr hervorkommen. Jede Frage nach meinem Befinden wirft
mich völlig durcheinander. Ich habe Angst vor der Nachuntersuchung bei
meinem Arzt. Er hatte mir beim letzten Mal in der Praxis ganz betroffen
und liebevoll die Hand auf die Schulter gelegt und mir ganz leise
viel Glück gewünscht. Er hatte sicher eine Ahnung, was mir bevorsteht.
Und seine Ahnung wird er bestimmt bestätigt sehen. Ich hoffe nur, dass
ich nicht in Tränen ausbrechen werde. Wie kann jemand anderes das
verstehen. Sich gegen etwas zu entscheiden und es dann so zu beweinen,
wenn ich es selbst nicht verstehen kann.
Es ist aber kein Tumor, den man sich herausschneidet, weil er Krebs werden
könnte. Es hätte auch etwas schönes werden können. Und deshalb ist
Zweifel an der Legitimität meiner Gründe vorhanden. Er wird momentan
immer größer. Ich frage mich, ob es wirklich die richtige Entscheidung
war. Ich wäre daran nicht gestorben. Da bin ich mir sicher. Ich hätte
nur große Probleme gehabt, mein Leben zu meistern. Der Frust, an meinen
eigenen Ansprüchen zu scheitern, hätte mich auch zum Psychiater führen
können. Ich werde nie herausfinden, was ich besser verarbeiten kann.
Vielleicht werde ich diesen Zweifel nie los. Ich kann meine Gefühle nicht
verstehen. Was mir ganz klar als richtig vorkam, kommt mir jetzt falsch
vor. Ich würde so gern mein Gewissen beruhigen. Aber ich kann noch gar
nicht klar sehen. Ich habe große seelische Qualen. Würde es am liebsten
wieder rückgängig machen. Aber ob ich wirklich anders entscheiden würde,
weiß ich auch nicht. Ich spüre auch etwas Erleichterung. Meine Ängste
sind fort. Kurzzeitig habe ich auch eine tiefe innere Ruhe. Und es sind
erst 7 Tage vergangen. Ich habe auch noch die Hoffnung, dass wieder alles
gut werden kann.